In keinem Land, das ich bisher bereisen durfte, ist mir die Schere zwischen arm und reich als so groß und so offenkundig erschienen wie in Rumänien. Ob das daran liegt, dass wir im Vorfeld mehrere Monate lang für derartige Thematiken sensibilisiert wurden, und ich darum mit viel offeneren Augen nach Rumänien ging, oder ob die Situation tatsächlich drastischer ist als in den bisher von mir bereisten Ländern, wird sich wohl erst im Nachhinein zeigen, wenn ich mit dem neuen Blick auch andere Länder wahrnehme.
Ist die Armut in Rumänien ein soziales oder ein ethnisches Problem? Mit dieser Frage sah ich mich konfrontiert, nachdem ich im Gespräch mit etlichen Einheimischen den Eindruck gewonnen hatte, dass es sich bei den in Armut lebenden Menschen mehrheitlich um ţigani, also Zigeuner handelt. Ich war erstaunt und erschrocken, wie negativ diese Bevölkerungsgruppe in den Gesprächen dargestellt wurde. (Ein Gespräch mit Menschen, die selbst dieser Bevölkerungsgruppe angehören, hat sich während meiner Zeit dort leider nicht ergeben.)
Mir war zwar im Vorfeld bewusst gewesen, dass Sinti und Roma bereits unter den Nazis verfolgt wurden, doch irgendwie war ich davon ausgegangen, dass die gesellschaftliche Ablehnung und Marginalisierung nach dem zweiten Weltkrieg ein Ende gefunden hätte. (Allerdings fällt es mir ohnehin unglaublich schwer nachzuvollziehen, wie Menschen in unserer heutigen Zeit, in der so viele Fakten so leicht wie nie zuvor zugänglich sind, dem reißerischen, platten und absolut unlogischen Gehetze von Rassisten Glauben schenken können. Doch schauen wir nur auf Donald Trump, sehen wir ein trauriges Beispiel für das Versäumnis großer Bevölkerungsmengen, dem Leitspruch Immanuel Kants Folge zu leisten: „Sapere aude – habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“)
Was ich damit sagen will: Es war wohl naiv anzunehmen, dass es in diesem Zusammenhang keine Diskriminierung mehr gäbe, aber es hat mich doch stark verwundert, mit welchem Nachdruck und welcher Absolutheit die negativen Meinungen vertreten wurden. Was hat es mit den Zigeunern auf sich? Diese Frage habe ich mir infolgedessen gestellt und will nun versuchen, sie so gut es geht zu beantworten.
Zigeuner, oder besser gesagt: Roma (denn das ist der politisch korrekte Ausdruck, den sie auch für sich selber benutzen), bilden die größte Minderheit in der EU. Von den rund 12 Millionen Roma lebt die Mehrheit im Südosten Europas, häufig in Ländern, die wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt sind, wie eben auch Rumänien. Offiziell sind in Rumänien eine halbe Millionen Roma registriert. Da aber viele keinen festen Wohnsitz haben oder aus anderen Gründen nicht gemeldet sind, ist die tatsächliche Zahl vermutlich viel höher; Schätzwerte liegen zwischen 1,5 und 2,5 Millionen, was rund 10% der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Es gibt aber gar nicht die Roma als solche, denn es handelt sich hierbei um eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe, deren zahlreiche Untergruppen und Clans sich stark voneinander unterscheiden können, was zum Beispiel Bildung oder auch Integration in die Mehrheitsgesellschaft angeht. Ein verbindungsstiftendes Element stellt die gemeinsame Sprache Romani dar, die zwar nicht von allen, aber doch zumindest von vielen Roma-Gruppen gesprochen wird. Die Sprache gehört übrigens, so wie Deutsch auch, zur Familie der indoeuropäischen Sprachen und ist mit dem alt-indischen Sanskrit verwandt, was damit zu erklären ist, dass die Vorfahren der heutigen Roma einst aus Zentralindien auf den europäischen Kontinent kamen.

Eine andere Ausdrucksform der Roma-Identität sind die sogenannten Zigeunerpaläste, eindrucksvolle Villen mit Säulen, Erkern, Bogengängen, ausladenden Veranden, ausgefallenen Dächern und bunten Farben, erbaut von dem kleinen prozentualen Anteil der Roma, der es zu materiellem Wohlstand geschafft hat. Zum ersten Mal bewusst habe ich sie in der rumänischen Seifenoper Sacrificiul wahrgenommen, in der es um drei Familien aus drei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geht, eine Familie aus dem Mittelstand, eine reiche Familie, und eine Roma-Familie, die eben in einem solchen Zigeunerpalast wohnt. Aber auch an den Straßen sind mir die kunstvoll gestalteten Villen häufiger aufgefallen. Sie dienen aber, anders als in der Serie dargestellt, gar nicht so sehr als Wohnraum, sondern vielmehr als Zeichen des familieneigenen Wohlstandes. (Wer noch mehr über Zigeunerpaläste lesen möchte, findet ganz am Ende dieses Artikels eine Literaturempfehlung, die ich auch zur Recherche benutzt habe.)
Doch Wohlstand ist gerade bei den Roma eher eine Seltenheit. Etwa 80% leben in Armut. Das größte Problem hierbei ist die schlechte Bildung. Viele Roma sind Analphabeten. Häufig sind die Eltern nicht zur Schule gegangen oder haben ihren Bildungsweg schon in jungen Jahren abgebrochen, was sich dann auf ihre Kinder übertragen kann, da sie es ihnen ja so vorleben. Auch von einigen Kindern aus dem Kindergarten wurden mir solche familiären Hintergründe berichtet. Abgesehen davon können die fehlenden finanziellen Mittel für Schul- und Materialkosten oder der zu weite Schulweg ebenfalls Gründe sein, warum Roma-Kinder keine Schule besuchen (können). Hier greifen zum Beispiel der Kindergarten und die Kinderhilfe in Caransebeș ein, indem sie den Kindern das Lernen finanziell ermöglichen und auch den räumlichen Rahmen sowie die nötige Betreuung dafür bieten. (Was aber nicht im Umkehrschluss heißen soll, dass sämtliche Kinder in beiden Einrichtungen aus Roma-Familien stammen.)
Seit Jahrhunderten sind die Roma Diskriminierungen ausgesetzt. So herrschen beispielsweise die Vorurteile, sie seien faul, kriminell und unehrlich. Viele Stereotype wurden von der breiten Bevölkerung im Laufe der Jahre so verinnerlicht, dass es für die Roma schwer ist, sich von dem Bild zu befreien. Gerade in akademischen Kreisen gelten sie oft als unterlegen. Auch ich habe einige Vorurteile zu hören bekommen, beispielsweise dass sie laut und streitsüchtig sind, und die Wohnungen, in denen sie leben, verwüsten, bevor sie zur nächsten weiter ziehen.
Im Banat, also der Region Rumäniens, in der auch Karansebesch liegt, ließ die österreichische Kaiserin Maria Theresia Maßnahmen durchsetzen, mit denen die Roma zwangsweise an die Mehrheitsgesellschaft assimiliert werden sollten. So durften sie beispielsweise ihre eigene Sprache und Kleidung nicht mehr verwenden, mussten ihr Nomadenleben aufgeben, durften keine Pferde mehr besitzen und sollten Landwirtschaft betreiben.
Selbst in der heutigen Zeit gibt es noch Diskriminierungen. Sie äußern sich in Maßnahmen wie etwa Zwangsumsiedlungen, was zu Ghettoisierung der Roma führen kann und damit zusätzlich zu ihrem Ausschluss aus der Bevölkerung beiträgt. Im Jahr 2011 etwa ließ der Bürgermeister von Baia Mare, einer Stadt im Nordwesten Rumäniens, eine Mauer um das Roma-Viertel errichten; ein Jahr später siedelte er 2.000 Roma zwangsweise in ein stillgelegtes Chemie-Werk um. Diese Beispiele zeigen, dass die Roma immer wieder mit institutioneller Diskriminierung zu kämpfen haben.
Roma-Siedlungen sind meistens schlecht an die Infrastruktur angebunden, was den Zugang zu Bildung erschwert, und auch elementare Dinge wie Strom, Wasser, Internet oder Kanalisation sind hier nicht immer selbstverständlich vorhanden. (Es gilt aber zu beachten: Diese Probleme sind nicht auf die Bevölkerungsgruppe der Roma beschränkt, gerade wenn man einen Blick auf die ländliche Bevölkerung wirft.) Weiterhin ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Roma aufgrund von Diskriminierung oft nicht so gewährleistet wie es für die Mehrheitsbevölkerung der Fall ist. Hier zeigt sich also ganz deutlich der Teufelskreis aus Armut und Diskriminierung, aus dem das Entkommen nur schwer möglich ist. Selbst wenn es immer wieder Beispiele gibt für Roma die Karriere machen und den Weg aus der Armut schaffen, so sind diese Erfolgsbeispiele innerhalb dieser Gruppe doch viel seltener zu finden als beim der Rest der Bevölkerung.

In Rumänien gibt es mittlerweile Gesetze gegen die Diskriminierung von Roma. Es wird auch Geld zur Verfügung gestellt für den Ausbau von Hilfen und der Infrastruktur, doch oft kommt das Geld nicht dort an, wo es am dringendsten benötigt wird. Dafür fehlt es an der entsprechend Koordination innerhalb der Roma. „Wer den sozialen Aufstieg schafft, möchte diese Kreise möglichst schnell verlassen“, heißt es. Die fehlende Bildung ist ebenfalls mitverantwortlich, dass das politische Bewusstsein der Roma nicht so stark ausgeprägt ist. Die steigende Bildungsrate der letzten Jahre macht allerdings Hoffnung, dass sich die Situation langsam, aber stetig verbessert. (Und auch hier kann ich aus dem Nähkästchen plaudern: Es gab etliche Kinder, die mich sehr beeindruckt haben mit ihrer Auffassungsgabe und Lerngeschwindigkeit, der Art und Weise, wie sie sich selbst im zarten Alter von 3-5 schon gewählt ausdrücken konnten, und ihrer Begeisterung mit der sie alles Wissen wie ein Schwamm aufgesaugt haben. Ich hoffe sehr, dass der Einsatz der Schwestern, der Angestellten im Kindergarten und der ehrenamtlichen Helfer in der Kinderhilfe vielen Kindern als Inspiration und Starthilfe für ein besseres und finanziell sorgenfreieres Leben dienen kann.)
Ob die Armut in Rumänien ein soziales, ethnisches oder historisch bedingtes Problem ist, lässt sich sicher nicht so klar und deutlich abstecken, schon gar nicht von jemandem, der so kurz in dem Land war wie ich. Fakt ist, dass selbst das wenige, was ich in meiner Zeit dort mit eigenen Augen sehen durfte, mir vor Augen geführt hat wie ungerecht der Wohlstand auf der Welt verteilt ist, selbst innerhalb der EU. Auch wenn die Situation heute schon viel besser sein muss als noch vor zehn Jahren – so habe ich das zumindest der vielfachen Schilderungen von den Menschen entnommen, die das Projekt schon seit vielen Jahren begleiten – gibt es nach wie vor genug Menschen, die für die Hilfe sehr dankbar sind. Das sind die Alten und Kranken, die sich eine teure Behandlung oder Pflegedienste nicht leisten können und die ohne die Mitarbeiter der Sozialstation niemanden hätten der ihnen Verbände wechselt, Wunden versorgt, sie wäscht oder auch einfach nur mal ein bisschen Zeit für sie mitbringt. Das sind die Bewohner eines Altenheims, die keine Angehörigen haben die sie besuchen, und die sich über einen Karnevalsbesuch im Clownskostüm von den Schwestern freuen, Leckereien und kleine Geschenke inklusive. Das sind die kleinen Krümel, die sich riesig freuen auf einen Kindergarten voll mit Spielzeug, mit Platz zum Rennen draußen, einem großen Sandkasten, Schaukel und Klettergerüst, deren Augen voll Stolz leuchten, wenn man sie lobt, weil sie ihren Namen geschrieben haben, und die gebannt lauschen wenn die Erzieherin aus dem Märchenbuch vorliest. Das sind die Heimkinder, die dank Spenden aus Deutschland zu Weihnachten ganz unverhofft Pakete bekommen können. Das sind die Jugendlichen bei der Kinderhilfe, die mit der Hilfe von Sponsoren zum ersten Mal eine Reise machen können, mal Urlaub machen, im eigenen Land, oder sogar im Ausland.
Auch, wenn alles viel eher zu Ende war als gedacht, und ich sicherlich noch mehr hätte sehen und lernen können, so denke ich doch, dass ich einiges mit nach Hause nehme. Allen voran den Respekt vor der unermüdlichen Arbeit der Menschen vor Ort in Caransebeș. Ihr habt es ja sicherlich schon aus meinem zweiten Zwischenbericht herausgehört, es ist mir nicht immer leicht gefallen, meinen Optimismus zu bewahren angesichts der Tatsache, dass es manchmal so auswegslos erscheint, überhaupt etwas an der Situation ändern zu können. Umso mehr ziehe ich meinen Hut vor all denjenigen, die sich eben nicht nur für eine begrenzte Zeit dem Dienst an anderen verschrieben haben, sondern das schon seit vielen, vielen Jahren tun. Ich denke, diese Art der Arbeit verlangt einiges an Willensstärke, Zuversicht und unermüdlichem Optimismus.
Und auch ganz viel Dankbarkeit empfinde ich jetzt nach meiner Zeit in Rumänien, und eine neugewonnene Wertschätzung für das, was ich bisher als Selbstverständlich gehalten habe. Dass ich eine gute Bildung erhalten habe und dabei von meiner Familie unterstützt wurde, dass ich mit meinen Eltern aufwachsen durfte und keiner von ihnen im Ausland arbeiten musste, weil es dort mehr Lohn gab, und natürlich auch für den materiellen Wohlstand. Aber ich bin auch dankbar, dass ich in Rumänien sein durfte, dass mir die Menschen mit so großer Freundlichkeit und Herzlichkeit, Türen und Herzen geöffnet haben, und mich eingeladen haben, ihr Leben zu teilen. Für mein Verständnis macht das die Rumänen ganz besonders aus: Selbst wer nicht viel hat, würde trotzdem bereitwillig und mit ganzem Herzen das Wenige mit dir teilen, was er hat. Und davon können wir doch eine ganze Menge lernen, oder?
Wer noch mehr zum Thema Roma und Roma-Architektur lesen möchte, dem kann ich folgende Quellen ans Herz legen:
- Rudolf Gräf: Zigeunerpaläste. Die Architektur der Roma in Rumänien. (Diplomarbeit, Graz, 2005)
- Esther Quicker: Das gespaltene Bild der Roma in Rumänien. (Dissertation, Jena, 2016)
(Vielen Dank an meine Mitfreiwillige, die mir diese Quellen empfohlen hat!)